N. Furrer: Stadtberner Privatbibliotheken

Cover
Titel
Des Burgers Buch. Stadtberner Privatbibliotheken im 18. Jahrhundert


Autor(en)
Furrer, Norbert
Erschienen
Zürich 2012: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
824 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Hanspeter Marti

Mit Norbert Furrers monumentalem Werk zur Geschichte der Stadtberner Privatbibliotheken und dem jüngst erschienenen Handbuch der historischen Buchbestände in der Schweiz (3 Bde., Hildesheim, Zürich, New York 2011) stehen der Schweizer bibliotheksgeschichtlichen Forschung nun zwei wichtige Arbeitsinstrumente zur Verfügung. Auch weil die Bibliotheks- und Buchgeschichte an Schweizer Universitäten nicht als Fach etabliert ist, sind wir hierzulande mit Untersuchungen zur Druckschriftenproduktion und -distribution sowie zum Buchbesitz nicht verwöhnt. Dies betrifft in hohem Masse auch die Privatbibliotheken. Die Auflistung von Buchtiteln und die Thesaurierung von bio-bibliographischem Wissen haben in der Fachwelt oft genug einen zu schlechten Ruf. Wer sich in unbekannteren Gefilden der Frühen Neuzeit aufhält, wird bescheiden und ist froh, wenn er auf Forschungsdesiderate hinweisen und der Nachwelt die Hauptlast weitergehender Arbeiten überlassen kann. Norbert Furrer ist sich der Grenze seiner Möglichkeiten bewusst, denn er liefert «keine Studie mit Endgültigkeits- und Vollständigkeitsanspruch, eher eine Art Handbuch zur Einführung in die gewählte Thematik und eine Art Materialsammlung zur weiteren Verwendung in Forschung und Unterricht» (S. 9). Trotzdem entspricht seine Erschliessung eines für die Stadt Bern gerade dank der Quellenlage unübersehbaren Gegenstands auf weiten Strecken Erwartungen, die über die von Bescheidenheit geprägte Selbsteinschätzung des Verfassers hinausreichen: Die Geltstagsrödel (Versteigerungsinventare) werden nicht nur als buchgeschichtliche Quelle entdeckt, sondern deren Inhalte im Hinblick auf den Buchbesitz mithilfe eines Analyserasters geordnet und/oder beschrieben, es wird ein Fallbeispiel, die Bibliothek des Handelsmanns, Grossrats und Landvogts Samuel Friedrich Fasnacht (1711–1794), präsentiert und dessen Büchersammlung im (biographischen) Kontext verortet. Auch Furrers Bemühen, methodische Grundlagen zur Bibliotheksgeschichtsschreibung als im weiten Sinn kulturwissenschaftlicher Disziplin zu erarbeiten und ein lockeres Geflecht von Deskriptoren in heuristischer Absicht zu entwerfen, weist in diese Richtung, ebenso die den Kapiteln angefügten tabellarischen Übersichten sowie die Abbildungen, die Informationswert im Blick auf sehr unterschiedliche Faktenreihen und deren Korrelate besitzen. Die Publikation gliedert sich in fünf Hauptabschnitte: Die Einleitung umreisst Gegenstand und Ausgangslage (I), dann werden sogenannte Kleinstbibliotheken sowie 37 kleine und mittlere Stadtberner Privatbibliotheken im Einzelnen reich annotiert vorgestellt (II). Es folgen ein Kapitel zu «Buch und Geist in Bern zur Zeit der Aufklärung», in dem 21 Bibliotheken mithilfe von Schaubildern analysiert werden (III), sowie ein vielgestaltiger Materialanhang, der u. a. aus erfreulich heterogenen Quellentexten und aus einem vom Verfasser erarbeiteten Kanon der Aufklärungsliteratur mit Zeittafel besteht (IV).Den Schluss bildet ein Anhang mit den üblichen und zusätzlich mit themenbezogenen Verzeichnissen (V).

Allen bibliotheks- und kulturgeschichtlich Interessierten empfehle ich, Furrers Werk durch Autopsie näher kennenzulernen und sich von ihm anregen zu lassen. Wer zum Beispiel mit den Vorgaben des literaturwissenschaftlichen Kanons des 19. und 20. Jahrhunderts an die Bücherwelt der Stadtberner des 18. Jahrhunderts herantritt, wird sich über die breite Literaturpalette wundern, in der einige heute noch anerkannte Grössen zwar vorkommen, aber einen marginalen Platz einnehmen; er wird verfestigte Epochenbilder wie das der Aufklärung relativieren lernen, indem er Bibliotheksprofilen begegnet, die sich bisweilen auf denselben Zeitabschnitt beziehen und sich dennoch diametral voneinander unterscheiden. Man wird des Schablonendenkens entwöhnt, eindimensionale Säkularisationsthesen und Teleologien aller Art über Bord werfen, der Wissbegier mancher Stadtberner begegnen, die sich im verbreiteten Besitz von Nachschlagewerken aller Art und von Lehrbüchern niederschlug, aber auch nach Druckschriften fragen, die in den Geltstagsrödeln vielleicht deshalb nicht vorkommen, weil sie weggeworfen statt aufbewahrt wurden, wird sich Rechenschaft geben, dass nur eine – soziologisch zwar recht heterogen zusammengesetzte – Elite von Stadtbernern Buchbesitzer waren. Man wird auf die Produktion lateinsprachigen Gelehrtenschrifttums aufmerksam werden und die Frage nach der Bedeutung lateinisch verfasster Publikationen für die Verbreitung der Aufklärung u. a. im Umfeld der Berner Hohen Schule (vgl. die unter dem Präsidium Jakob Lauffers verteidigte Dissertation Gabriel von Mutachs, 605f.) und für die Schweizer Aufklärung überhaupt stellen. Der Spaziergang durch das nun erschlossene Quellenmaterial Stadtberner Büchersammlungen lockt zu Ausflügen zu alten Bibliotheken in den Berner Landgebieten, die mit heute noch bestehenden bedeutenden Beständen aufwarten. Die Spezifika einzelner Quellengattungen eröffnen bestimmte Fragehorizonte, kommen den einen Erkenntnisinteressen mehr als anderen entgegen und beeinflussen dementsprechend die Untersuchungsergebnisse. Das von den Geltstagsrödeln vermittelte Bild gibt die Zusammensetzung der Bibliotheken in einem bestimmten Zeitpunkt wieder: Es erlaubt in der Regel keine Rückschlüsse auf die Genese einer Sammlung und auf Mutationen der Buchbestände im Laufe der Zeit, auf deren Provenienz, auf die Erwerbsart, also nicht auf die Geschichte der einzelnen Bibliothek. Wer hierüber Aufschluss will, entnimmt den edierten Quellentexten den einen oder anderen wichtigen Hinweis. Um die Disponibilität der vermittelten Fakten durch variable Suchanfragen erhöhen zu können, wäre auch eine elektronische Version dieses überaus wertvollen Nachschlagewerks anzustreben.

Zitierweise:
Hanspeter Marti: Rezension zu: Furrer, Norbert: Des Burgers Buch. Stadtberner Privatbibliotheken im 18. Jahrhundert. Zürich: Chronos 2012. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 3, 2013, S. 54-56.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 3, 2013, S. 54-56.

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